"So, jetzt noch a Haucherl Vanille-Öl dran, und die Sach hat a Eck!" Sagte der Gourmetrat aus Österreich und freute sich daran, dass ihm das Fischfilet wieder einmal so wunderbar geraten war. Die Sach hat a Eck - so spricht er gerne einmal, wenn er etwas besonders gelungen findet. Auf derlei kann nur ein Österreicher kommen. Nun gut, das sympathische Bergvolk ist entwicklungsgeschichtlich irgendwie noch im Zeitalter steckengeblieben, da das Rad noch nicht erfunden war und man nicht wusste, dass runder läuft, was keine Ecken hat.
Trotzdem, er müsste es besser wissen, der Österreicher. Kennt er das mit den Ecken doch vor allem vom Ski-Weltcup. Da gibt es auf fast jeder Piste eine Stelle, die nach einem Österreicher bezeichnet ist.
Das Franz Klammer-Eck zum Beispiel in Wengen, so benannt, weil der an sich als Seriensieger gebuchte Skistar dort gerne mal spektakuläre Stürze baute und den formvollendeten Abflug neben die Piste machte. Und wer erinnerte sich nicht an den sensationellen Fünffachüberschlag
des Herminators bei Olympia am, na klar, Hermann Maier-Eck in Nagano. Gäbe es beim Abfahrtslauf B-Noten für den künstlerischen Wert, er hätte auch dieses Rennen gewonnen.
Auch im Fußball wird er mit Ecken konfrontiert, der Österreicher. Wobei der Fußball nicht unbedingt zu seinen Kernkompetenzen rechnet, das weiß man, das ist bekannt, er kann nicht einmal solche Standardsituationen. Zumal der Österreicher, wenn er an Standard denkt, viel eher seine gleichnamige Tageszeitung vor Augen hat. Das Wort Zeitung müsste in diesem Kontext an sich in Anführungszeichen gesetzt werden, denn mit seriösem Journalismus hat das Blatt nicht viel mehr zu tun als der Haiderjörgl seinerzeit mit seriöser Politik.
Das Eck im Operettenstaate der Hofräte, Geheimräte, Kommerzialräte und Magister mag man auch festmachen an der Zerrissenheit im Verhältnis zu den benachbarten Piefkes, irgendwo zwischen Neid, Bewunderung und Minderwertigkeitskomplexen. Überhaupt, diese Widersprüche allenthalben im Alpenland - eine der größten Süßwasserreserven des Landes Neusiedler See nennen, gleichzeitig aber die Grenzen dicht machen und den Revolver mit sechs Mozartkugeln durchladen, wenn mal ein paar Flüchtlinge kommen, neue Siedler, wie passt das zusammen? "Meine Hobbys sind Strohrum, Xenophobie und FPÖ", wird etwa der typische Kärntner immer wieder zitiert - und da gibt es durchaus Kausalzusammenhänge zwischen den drei Elementen. Haider und seine Erben in der skilehreresken politischen Klasse Austriens kann man sicherlich nur mit reichlichst Restalkohol wählen. Spätestens hier kommt dann das deutsche Sprachbild ins Spiel, dass einer eine Ecke abhat.
Genügend Grund also, der Sache mit den Ecken mal auf den Grund zu gehen. Wo sonst, wenn nicht im Steirereck, dem nominell besten Restaurant Wiens?!
Das Restaurant steht seit Jahrzehnten in der Spitzengruppe der österreichischen Gastronomie, wirkt dennoch alles andere als altbacken.
Im Gegenteil, mit dem Umbau vor knapp zwei Jahren wurden klassisch-moderne Akzente gesetzt. Fließende architektonische Formen, eher rund als eckig, viel helles Holz, grauer Boden, Fenster geben den Blick auf den umliegenden Park frei, durchaus gefällig und eines Gourmettempels absolut würdig.
Beeindruckend auch die Freundlichkeit des aufmerksamen Service, aus dem die kompetente Weinberatung noch einmal besonders heraussticht. Telefonbuchdicke Weinkarte, fair bepreist, die Stärke liegt natürlich in Österreich, aber das sollte auch so sein, ich fliege ja nicht nach Wien, um dort Spätburgunder von der Ahr zu trinken.
Und irgendeinen Grund muss es ja dafür geben, dass mein Rechtschreibprogramm aus "Wien" grundsätzlich "Wein" macht. Dies allein mit dem politischen Bedeutungsverlust des Nordbalkanstädtchens zu erklären, wäre kürzer gesprungen als die österreichischen Adler im Skisprung-Weltcup 2015.
Also ordere ich den 2009-er Kellerberg von Pichler, das ist der letzte Jahrgang, in dem der Wein noch richtig gut war.
Genug der Vorrede, irgendwann war der Aperochampagner von Christophe Mignon serviert und konnten die Spiele beginnen. Zunächst mit dem Einmarsch der Brotauswahl. Rund 15 selbst gebackene Sorten werden angeboten. Bis der Brotmeister mit dem Aufzählen durch ist habe ich den Schampus fast schon geleert.
Ein wenig zwiespältig bin ich angesichts der Rosmarin-, Thymian-, Quitten- und sonstigen Brote schon. Natürlich voller Respekt, dass man so einen Aufwand betreibt, andererseits lenkt mir zu aromatisches Brot zu sehr vom Hauptdarsteller auf dem Teller ab.
Es sei denn, das Brot wäre speziell auf einzelne Gerichte abgestimmt, wie seinerzeit in den Neunzigern bei Alain Senderens - dessen legendäre Kombination "vier Käse, vier Brote, vier Weine" ewiglich zu den höchsten Feiertagen des Gourmetigels rechnen wird. Also enttäusche ich den Brotmeister, wähle eine stinknormale Baguette und schaue hungrig in Richtung der Amuses.
Auch dort herrscht das Vielfaltprinzip, gleich acht Leckerbissen werden gleichzeitig aufgetischt. Ein Löffel Kürbis mit Melone, ein in Erdnusssplittern gewälztes Maiskölbchen, zwei hauchdünne Kräutercracker, eine Rotaugenkartoffel im Sud mit etwas saurer Sahne, direkt daneben Rotaugenkartoffelchips.
Dann ein paar Lupinensamen mit Zwiebelringen, Selleriestücken zum Dippen im hausgemachten Wermutsalz, ein Gebäckröllchen mit Karottenmousse und zur Verbindung all dieser Häppchen mit den unterschiedlichen Brotsorten ein Töpfchen Salbeibutter und eines mit Hanfsamenbutter.
Insgesamt wird hier schon ein Leitmotiv deutlich, das mich durch das gesamte Menü begleiten sollte - man setzt auf ausgefallene Gemüse- und Getreidesorten, eher auf Zutaten als auf große Technik und kompositorische Geniestreiche. Entsprechend gibt es zwar den einen oder anderen Aha-Effekt am Gaumen, für mich vor allem bei den Lupinensamen, die ich vorher noch nicht kannte. Richtig denkwürdig wird es aber nicht.
Nun schwimmt die Forelle an den Tisch, sushi-ähnlich serviert, vielleicht einen ganz kleinen Hauch angegart, begleitet von zweierlei Honigmelone, einmal frisch und einmal gedämpft. Wobei die gedämpfte zusätzlich noch ein wenig mit Erbsenpüree arrondiert war.
Der Fisch selbst war mit Limettensalz gewürzt, allerdings mit einem Spürchen zuviel davon. Das geht zu Lasten des Eigengeschmacks und darf in der Zweisterneliga eigentlich nicht passieren. So richtig hat sich mir leider auch nicht erschlossen, warum die Küche die Melone dazu gesellt hat.
Die rohe setzte immerhin noch einen netten Fruchtakzent gegen den Fisch. Passt auch nicht wirklich, so richtig mögen die beiden sich nicht. Geht aber noch.
Die gedämpfte Melone hingegen erschien belanglos. Da entfachte sich kein Spiel, keine gegenseitige Befruchtung, keine Harmonie. Am Rande des Tellers war noch etwas "Kopfsalattrester" aufgetragen - was immer das sein soll - erinnerte geschmacklich an Pesto und gehörte für mich eher in die Kategorie belanglos.
Weiter ging es mit Rosalind und Cyklame, zwei alten Kartoffelsorten, die als Püreecuvee auf den Tisch kamen, in die kleine Stückchen vom Knollenziest (chinesische Artischocke) und Schwarznesselblüten eingearbeitet waren. Gegen einen bescheidenen Aufpreis von 12 Euro wurde auch noch ordentlich weiße Trüffel über das Ganze gehobelt, man gönnt sich ja sonst nichts.
Und hier war der Gourmetigel dann dicht an einem Hochgenuss, denn das alles passt genial zusammen. Kartoffeln und Trüffel, klar, das ist ein Klassiker. Auch der Ziest, der geschmacklich ein wenig in der Nähe von Ingwer zu verorten ist, akzentuiert die sehr intensiven Kartoffeln eigentlich ganz wunderbar. Genau wie die Schwarznesselblätter, die etwas Schärfe ins Aromenkonzert einbringen.
Nur die Dosierung stimmte nicht. Etwas zuviel von Ziest und Nesseln, so dass die Kartoffel zu sehr an den Rand gedrängt wurde. Und wieder meinte die Küche es zu gut mit dem Gast und arbeitete zusätzlich auch noch Salzzitrone und aromatisierten Blattkohl ein. So dass insgesamt zu viele Elemente im Widerstreit um die organoleptische Lufthoheit standen.
Und die meisten davon spielten eher auf der säuerlichen Seite, was die Harmonie etwas in diese Richtung kippen ließ.
Ich montierte in Kleinarbeit den Großteil des Ziests und der Nesseln aus dem Püree, mischte die Trüffeln unter und plötzlich passte es. Kein maulsperrendes Sechseck mehr, sondern ein kleines, bezauberndes Ziest-Eck im Klassiker von Kartoffeln und Trüffel. Hätte die Küche mir die Montagearbeit abgenommen, es wäre ein Gericht gewesen, über das ich glatte drei Sterne hätte leuchten lassen.
Nun spazierte der Rehbock auf den Tisch.
Ein ordentliches Filetstück, einen Hauch zu durch aber butterzart. Begleitet von einem wiederum stark im säuerlichen Bereich arbeitenden Gemüsestrauß.
Butternusskürbis, mit Thymian und Orangeblüten würzig-säuerlich aromatisiert, zitronierte Artischocken, nicht bitter aber ebenfalls auf der sauertöpfischen Seite und ein Zwiebel-Rettich-Gemüse mit einer Spur Meerettich.
So richtig verbinden sich die Dinge nicht, vielleicht hätte man aus der Abteilung Kartoffeln/Spätzle/Nudeln noch einen Mediator anheuern sollen?
Zumal die Säuerlichkeit wieder etwas arg im Vordergrund steht. Dafür konveniert die Sauce, der ich nur einen Hauch mehr Cremigkeit gewünscht hätte. Sei es über einen Stich Butter oder gar ein Tröpfchen Sahne. Dennoch, das alles ist Klagen auf sehr hohem Niveau, das war ein durchaus sehr guter Hauptgang, der den zwei über dem Steirereck leuchtenden Sternen keine Schande machte.
Wahrscheinlich hat man beim Umbau des Restaurants statisch einiges zur Stabilisierung getan, sonst hätte der nun vorfahrende Käsewagen das Haus wahrscheinlich zum Einsturz gebracht. Weit über fünfzig Käsesorten tummelten sich auf mehreren Etagen.
Opulenz hatte sich spätestens damit als zweites Leitmotiv des Steirerecks neben dem Kräuter/Gemüsethema etabliert. Das Schwergewicht liegt auf österreichischem Käse, das gefällt mir - ebenso wie die superbe Beratung des Käse"sommeliers", der vor Begeisterung angesichts seiner Schätze über alle vier Backen strahlte.
Ich hielt mich fast gewaltsam zurück, nicht jeden einzelnen zu probieren, nahm aber das freundliche Angebot einer zweiten Runde nur zu gerne an. Die österreichischen Käse, das wurde deutlich, waren alle voll auf dem Punkt, die Klassiker aus Frankreich nicht ganz so perfekt, aber durchaus gut.
Einen weiteren Glanzpunkt setzte das Dessert, das als Trinitario-Schokolade mit Ananas-Percion-Sorbet und Kokos-Makronen in der Karte stand. Erste Frage: Wo sind die Makronen? Weit und breit nicht zu sehen.
Allerdings ruhte die Schokomasse auf exzellenten Mürbteigfundamenten, den ich mal als Makronen durchgehen lassen will. Ein Anfall von Altersmilde beim Gourmetigel, herrjeh, reserviert mir schon mal ein Zimmer im Augustinum. Die Schokomasse selbst kann nur als grandios angestrichen werden, eine Top-Schokolade wurde hier zu einer wunderbar cremigen, kakaofruchtigen Masse aufmontiert, sensationell.
Das Ananaseis spielte ebenfalls in der Championsleague und passte perfekt zur Schokolade. Auch weil ein leicht kräutriger Einschlag dabei war - der Pericon? Oder muss es das Pericon heißen? Der Maitre konnte mir leider auch nur sagen, dass das "irgendein Kraut" sei. Und Google kennt als Pericon nur einen argentinischen Volkstanz. Nun tanzt der Igel per se nicht. Tanzte er aber, hier wäre ein Freudentanz fällig gewesen, das Dessert spielte klar in der Dreisterneliga.
Zumal auch noch eine tolle Meringue mit einem Hauch Kokosaroma unter dem Ananaseis lag und im Gesamtbild einen zusätzlichen Akzent setze, geschmacklich wie von der Textur her. Das gilt auch für den Klecks Fruchttartar in der Mitte des Tellers.
Die Mignardises arbeiteten sich am Thema Honig ab. Ein wenig albern serviert, denn der Wagen, auf dem sie hereingefahren wurden, war mit einem Lautsprecher versehen, aus dem mitten im Dezember Bienengesumme in den Raum ausgestrahlt wurde. Kann man machen, muss man aber nicht. Dann stellte der Kellner sechs Kleinigkeiten vor den Fressigel: Erstens Früchte in einem mit Honig aromatisierten Gelee. Ja, ganz nette Früchte, das Gelee aber eher nichtssagend. Zweitens mit Honig verfeinerte Puffreiskörnchen mit neuerlich viel zu sauren Zitruskrümeln. Drittens extrem süßen Wabenhonig. Viertens einen Honigkeks mit Honig. Da fehlte dann die Säure, die sonst zu heftig durchs Menü schwappte. Fünftens einen recht angenehmen Honignougat. Und sechstens eine Schoko-Honig-Nougat-Praline, die nicht gerade in der Offenbarungsliga spielte.
So schloss sich der Kreis zu den Amuses, die ähnlich nüchtern und uninspirierend dahergekommen waren. Da wäre das eine oder andere Eck, etwas mehr Wagemut und etwas mehr kompositorische Initiative ganz nett gewesen. Insgesamt waren das für mich im Steirereck zwei Sterne, wenn auch eher knapp. Als Kandidat für die Dreisterneabteilung sehe ich das Haus aktuell keinesfalls. Da geht mit den - meist österreichischen - Journalisten, die das herbeizuschreiben versuchen, wohl der Lokalpatriotismus durch. Die 95 Euro für das Mittagsmenü gehen allerdings sehr in Ordnung. Ebenso wie die gut 100 Euro für die Flasche Kellerberg und die 17 Euro für das sehr gut eingeschenkte Glas Champagner. Jetzt noch etwas mehr Kreativgeist und etwas besseres Harmoniegefühl am Herd - und die Sach hätt a Eck!