Nun sitzt der Horst also im Heimatmuseum und hält Seehof. Wie muss man sich das wohl vorstellen? Morgens Vorfahrt im Dienstaudi in den Innenhof, Abschreiten einer Trachtenformation, die für den greisen Minister den bayrischen Defribrilliermarsch spielt? Abends beim Verlassen des Hauses spielt dann eine andere Trachtengruppe den Zapfenstreich, auf Original bayrischen Latschenkiefernzapfen?
Ja, es spottet sich leicht. Aber irgendwie trifft das Ding mit der Heimat vielleicht sogar den Zeitgeist. Unsere Welt ist zusammengerückt, ist kleiner und internationaler geworden, in vielerlei Hinsicht. Wer seine Kindheit vor vierzig, fünfzig, vielleicht sogar sechzig Jahren in Deutschland erlebt hat, ist groß geworden in einer Zeit ohne Internet, ohne Google. Entsprechend eng war der Horizont. Man lebte in seinem Dorf, seiner Stadt, kannte fast jeden, das Leben war übersichtlich, ereignisarm und für unsere heutigen Begriffe unfassbar langsam.
Urlaubsreisen gingen an die Nordsee, in die Alpen, vielleicht wagte man sich auch mal nach Italien an die Adria oder, wenn man etwas besser gestellt war und ein paar Brocken französisch konnte, an die Côte d´Azur. Interkontinentalreisen waren einer winzigen Oberschicht vorbehalten, für alle anderen gab es Afrika, Lateinamerika oder Südostasien eigentlich nur in der Tagesschau oder in der FAZ, zumeist als Schauplatz von Militärputsch,
Bürgerkrieg oder Naturkatastrophen. Fernsehreportagen über Natur und Kultur in diesen Ländern waren selten, hießen z.B. Expeditionen in die Tierwelt und boten wacklige, zum Teil nachkolorierte Bilder, auf denen evt. in der Ferne mal ein Löwe zu erahnen war.
Und wer gar Freunde oder Familien in exotischen Ländern hatte, schrieb Briefe, die bis zu sechs Wochen unterwegs waren. Telefonate waren so gut wie ausgeschlossen, schon allein weil das interkontinentale „Ferngespräch“ horrende Summen kostete, zehn, zwanzig Mark die Minute waren durchaus Standard.
Heute kann es sich die große Mehrheit der Deutschen leisten, mal eine Woche auf die Malediven, in die Karibik oder nach Thailand zu reisen. Mit dem Taj Mahal auf Du und Du, was man nicht selbst besucht, kann man in 3D im Internet bewundern. Informationen aus aller Welt treffen in Echtzeit ein, mit Freunden, die oft nur auf Facebook so heißen und früher kaum als entfernte Bekannte durchgegangen wären, kann man per Skype jederzeit stundenlang fast kostenfrei sprechen.
Die Kehrseite der Internationalisierung ist der Leistungsdruck der Globalisierung. Die Ruhe und die Langsamkeit sind dahin, die Tretmühlen mahlen jedes Jahr ein wenig schneller. Wer im 18. oder 19. Jahrhundert auf dem Dorf lebte, musste nach der Ausbildung oft bis zum Ruhestand nichts mehr dazu lernen – das Dorf veränderte sich kaum, die Lebensumstände blieben gleich. Heute gilt das Dogma des „life long learning“, ständig neue Technologien, deren Beherrschung gelernt sein will, ständig höhere Anforderungen am Arbeitsplatz.
Die Zahl derer, die nicht mithalten können, die sich überfordert fühlen, wächst kontinuierlich.
In Deutschland haben wir keine Heimatmuseen dieser Art. Am nächsten kam der Idee des Bewahrens über viele Jahre das Sonnora von Helmut Thieltges. Die Speisekarte veränderte sich in den 25 Jahren seiner Regentschaft als Dreisternekoch nur im Endmoränentempo, Klassiker wie die Stopfleberterrine „Trauben-Nuss“ oder die von Thieltges kreierte Komposition aus Kartoffelrösti, Tatar und Kaviar hielten sich über Jahrzehnte im Menü – mit Recht!
Seine Auster mit Minze und Holunder wurde von vielen anderen Spitzenköchen kopiert und war über viele Jahre als Amuse im Sonnora nicht wegzudenken. Entschleunigung geht besser, schöner und schmackhafter nicht.
Nach dem allzu frühen Tod von Helmut Thieltges hat Clemens Rambichler die Küche übernommen. Und alles richtig gemacht. Keine Turbo-Innovation, keine radikaler Schwenk zu molekularen Abenteuern, sondern eine schrittweise, behutsame Weiterentwicklung des Bewährten. Ich habe mich selbst vom ordnungsgemäßen Zustand des Restaurants überzeugt und bin auch eine Woche danach noch immer euphorisiert.
Die Reise durch das große Menü begann mit einem formidablen Amuse, das ich so im Sonnora noch nie genossen hatte – weiße Tomatencreme mit Gazpacho, Gurken und Shrimps. Freunde, das war so unfassbar tomatig und so intensiv gurkig, davon werde ich noch Willi Brandts Enkeln erzählen! Das schaffte die Balance zwischen Süße und Säure, zwischen Fruchtigkeit und Würze so perfekt, das geht nicht besser. Am liebsten hätte ich einen großen Kübel davon aus der Küche stibitzt und ihn heim in den Igelbau geschleppt. Weltklasse!
Weiter ging es mit drei Happen, die es in ähnlicher Form auch bei Thieltges schon gegeben hat.
Begeistert hat mich auch die Challans-Ente. Die wird mutig in eine extrem konzentrierte Orangensauce gepackt. Nicht wie die klassische Ente à l´Orange, nein, hier ist es eine viel dichtere, dickflüssigere Version, mit Gewürzen (Nelken?) angereichert, so dass man sie pur kaum löffeln wollte.
Mit der Ente, die wiederum mit einer großzügigen Kräuterkruste ummantelt ist, ergibt sich aber ein wundervoller Dialog. In den Wirsing und Polenta eher als Souffleur hineinwirken als dass sie ernsthaft mitreden dürften.
Doch schafft die Polenta im Hintergrund ganz unauffällig eine schöne Verbindung zwischen Frucht und erdiger Kräutrigkeit und gibt der Wirsing noch einen salzigen Gemüseton dazu.
Schade, keiner der Gäste scheint mir etwas abgeben zu wollen.
Doch! In letzter Minute erhalte ich von rechts die Hälfte der dortigen Ente („ich kann jetzt wirklich nicht mehr“). Man muss nur die richtigen Leute mit ins Lokal nehmen.
Und weil der Igel ja einen zweiten Magen im Kofferraum hat, lässt er sich als nächstes von dem bestens bestückten Käsewagen noch das eine oder andere vorlegen. In der Sterneliga an sich eine Selbstverständlichkeit, dass alle Käse voll auf dem Punkt sind, für das Protokoll sei aber vermerkt, dass diese Selbstverständlichkeit im Sonnora vorbildlich gegeben war.
Zeit für ein paar Desserts. Zum Beispiel das Duett von Mandarinen und Mandarineneis unter angeflämmtem Schaum von der Tahiti-Vanille. Gut, wie Mandarinen schmecken, weiß man. Wie besonders gute Mandarinen schmecken, kann man sich auch noch vorstellen. Wie ein aus solchen Mandarinen hergestelltes Mandarineneis den Gaumen streicheln kann, ja, muss ich wohl ebenfalls nicht lange erklären. Den Vanilleschaum hingegen, nee, Leute, wie genial der war, das könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Ihr DENKT vielleicht, dass Ihr schon so ungefähr wisst, wie das mit Vanille so ist. Ja, ich gebe zu, das hätte ich auch gedacht. Aber diese Geschmacksexplosion, nee, ganz ehrlich, sowas habe ich noch nicht erlebt. Und der Igel ist nun gastronomisch wahrlich kein Anfänger. Das war so intensiv, so hrrrgrrmpf, jetzt fehlt mir ein Wort, so vanillig, so cremig, so fein, so lang, so dicht, da muss man eigentlich in die Weinsprache wechseln, obwohl es gerade nicht diese Fasstoastingvanille war, die gemeinhin eher überschätzt wird. So, und jetzt bin ich auch bei meinem einen, großen Kritikpunkt an diesem Menü. Lieber Clemens Rambichler, es ist ein Skandal, dass es von dieser Vanillecreme nur einen eher übersichtlichen Klecks gab. Ich prangere das an! Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, den anderen am Tisch KO-Tropfen zu verabreichen, um deren Vanilletupfer ebenfalls einzusammeln, aber, nein, dafür bin ich einfach zu nett. Ich muss noch an mir arbeiten.
Was für ein Abend! Ich freue mich, dass der Michelin dem Haus die drei Sterne gelassen hat! Alles andere wäre ein Hohn. Wenn Helmut Thieltges noch hätte erleben dürfen, wie hervorragend sein Erbe verwaltet wird, wie souverän sein Nachfolger den schweren Rucksack trägt, er wäre sicher sehr stolz auf Clemens Rambichler gewesen
Nein, ein Heimatmuseum ist das Sonnora nicht. Ein Traditionshaus wird es aber bleiben, das ist spürbar. Die Veränderungen sind sanft, am ehesten machen sie sich in der etwas verspielteren Dekoration des einen oder anderen Tellers bemerkbar. An den Eckpfeilern wird aber nicht gerüttelt. Und das ist richtig so! Ich freue mich kolossal, dass dieses Stück meiner Heimat erhalten bleibt.
Trotzdem schweifte ich auf der
41. Etappe meiner Vierschänkentournee einmal wieder in die Ferne um in fremde Töpfe zu schauen.