Früher war mehr Lametta! sagte Opa Hoppenstedt und trauerte den guten alten Weihnachten hinterher, die noch nicht "unter dem Baum entschieden" wurden.
Die Entscheidungsschlacht unter dem Baum gibt es ja erst seit ein paar Jahren, seit eine debile Werbung vorgaukelt, es ginge bei der alljährlichen Kommerzorgie tatsächlich umkriegerische Handlungen, um Sieg oder Niederlage.
Warum auch nicht, bedienen wir uns für Weihnachten doch gleich flächendeckend der Depperles-Sprüche aus dem liebsten Ersatzkrieg des Deutschen, dem Fußball:
Der Advent hat seine eigenen Gesetze, elf Sternsinger müsst Ihr sein, entscheidend is auf'm Plätzchen, ein Krippenspiel dauert 90 Minuten...
Der Lebkuchenverkauf hingegen dauert 90 Tage, Minimum. Der anschließende Heiligabend brachte nichts ein.
Also, früher war weniger Playstation, weniger Atomkraftwerk auf dem Gabentisch ("und die kleinen Kühe fallen um"), weniger Media-Markt, dafür aber mehr Lametta.
Und in der Hochküche? Der gleiche Unsinn! Die Sterneküche wird neuerdings unter dem Schaum entschieden. Der nennt sich manchmal auch Espuma. Was auch nichts anderes als Schaum heißt. Aber besser klingt. Weil's immer besser klingt, wenn man Dinge, die auf Deutsch nach nix klingen, ausländisch hersagt. Und hier muss man gleich mit Spanisch ran, auch wenn die Gastrohochsprache an sich das Französische wäre. Aber die "Mousse" ist ja gastrotechnisch schon anderweitig besetzt und "Ecume" bedeutet irgendwie zugleich auch Gischt - das will dann ja endgültig keiner mehr fressen. Das britische "Foam" ist auch schon vorbelastet, da hat man unwillkürlich Schaumgummi vor dem inneren Auge. Was wiederum gar nicht so falsch wäre, denn die Schäume, die "Espumas", die die Hochküche der Neuzeit so serviert, unterscheiden sich geschmacklich oft nicht wirklich vom Schaumgummi.
Und so sage ich es mit den Worten von Opa Hoppenstedt: Früher war mehr Sauce! Und das ist noch zu freundlich formuliert. Denn früher war nicht nur mehr Sauce, früher war überhaupt Sauce. Heute gibt es die nicht mehr. Heute wird ein Kubimillimeterchen Flüssigkeit so lange aufgeschäumt, bis es genügend Volumen gewonnen hat, um wahlweise das Fleisch, den Fisch oder die Sättigungsbeilage für einige Sekunden lang notdürftig zu bedecken, bevor es in sich zusammenfällt.
Die geschmackliche Bereicherung oszilliert dabei um die gastronomisch Nulllinie herum. Der Espuma dient eher als Nachweis für das handwerkliche Können des Küchenchefs - und für die sportliche Fitness der Kellner, die ja mit dem Teller zum Gast sprinten müssen, eher der Schaum sich in Nichts aufgelöst hat.
Egal wo man hinschaut, ins la Vie, zum Amador, oder auch zu Klein im Arnsbourg, überall schäumt und spumiert es wie ein Asti. So lange, bis auch der Gast schäumt. Und zwar vor Wut, dass der Koch sich nicht mehr die Mühe macht, Saucen herzustellen. Wer hat das denn eigentlich verlangt? Muss denn die Haute Cuisine genauso treudoof jeden Trend mitmachen wie die Haute Couture?
Aber, ganz ruhig, es gibt ja noch Ausnahmen. Zum Beispiel das kleine gallische Dorf, das beim Espuma noch nicht spurt und in dem der Kellner noch nicht spurten muss. Illhaeusern heißt es und seit 1967 stehen drei Sterne über der dortigen Auberge de l'Ill. Ein Familienbetrieb, nach den Krieg von Oma Haeberlin gegründet, dann in den sechziger Jahren vom inzwischen verstorbenen Paul Haeberlin mit viel Liebe und wunderbar sahnigen Saucen zum dritten Stern gekocht, später zusammen mit Sohn Marc Haeberlin auf gleichem Niveau fortgeführt.
Der fast neunzigjährige Restaurantchef Jean-Pierre Haeberlin, Bruder von Paul, dreht noch immer jeden Abend seine Runden durch den Saal, macht die Honneurs und führt die Brigade. Die irgendwie auch zur Familie gehört und der Auberge treu bleibt. Maitre Michel Scheer ging 2012 nach 43 Jahren bei den Haeberlins in den Ruhestand, Chefsommelier Serge Dubs ist schon ähnlich lange an Bord.
Und so scheint die Zeit manchmal stehen geblieben in Illhaeusern. Obwohl das Restaurant vor einigen Jahren renoviert, das Dekor modernisiert wurde. Obwohl die Ölbilder von Roger Muhl inzwischen durch moderne Skulpturen ersetzt wurden. Doch auf den Speisekarten finden sich noch immer die Aquarelle von Jean-Pierre und auf den Tellern noch immer Gerichte, die der traditionellen Linie der Auberge folgen, kein neumodischer Schnickschnack, kein Molekularklamauk, keine Schäume, keine Brausekrümel. Stattdessen hochwertigste Produkte, perfekt auf den Punkt zubereitet, mit herrlichen Saucen. Ja, Saucen, die gibt es, und was für welche!
Stehen geblieben ist die Küche der Haeberlins trotzdem nicht. Natürlich halten sich ein paar der unsterblichen Gerichte von Paul noch immer auf der Karte, Lachssouffle, Hummermousseline und der Haeberlinpfirsich. Sowie selbstverständlich die weltbeste Gänsestopfleber. Die gibt es gebraten oder als Terrine, wobei ich stets letztere ordere, weil nur da die ganze Klasse der Haeberlin Foie Gras deutlich wird. Ausnahmsweise bin ich gar nicht böse, dass völlig auf Sauce verzichtet wird, das Ding steht für sich, braucht nicht einmal die dazu gereichte Brioche.
Diese Klassiker sind aber mehr Hommage an die Küche von Paul als stilbildend für die Küche von Marc. Bei ihm verhindern gewagtere und neue Kombinationen ein Verstauben der Küche. Das Zanderfilet zum Beispiel, das auf meinem Ragout von Dinkel, Räucheraal und grünem Apfel serviert wird. Winzige Schnitzchen Granny Smith spielen mit ebenso feinen Aalpartikeln.
Der Dinkel bringt Biss hinein und am Ende schmeckt man nur einen Hauch vom Räucheraal, der den Zander nicht erschlägt, nicht fett wirkt, von der Frucht des Apfels belebt wird. So geschieht dann das Wunder, dass selbst jemand wie ich, der weder Aal noch Dinkel sonderlich schätzt, für diese perfekte Kombination sofort eine Fanseite bei Facebook einrichten möchte. Saucenweltmeister Ducasse muss zittern, besser könnte er das auch nicht.
An sich eher traditionell klingt dann der nächste Gang: Kalbsbries mit Morcheln. Wobei wir hier selbstverständlich von frischen Morcheln reden. Und natürlich gibt es auch dazu eine Sauce und zwar vom Vin Jaune, ein genialer wenngleich nicht rasend origineller Begleiter zu Bries und Morcheln. Originell ist die Perfektion in der Zubereitung der Sauce, da spielt auch noch ein anderer, fruchtigerer Wein mit hinein, dazu offenbar eine ungemein dichte Gemüseessenz, die mit den grünen Erbsen harmoniert, die man ebenfalls eingebaut hat. Und natürlich fehlt die Sahne nicht, die dem Ganzen eine wunderbare Textur gibt. Andächtiges Niederknien, das ist erneut Perfektion im Gewand von Einfachheit.
Wie auch das Lammcarre, das als Hauptgericht serviert wurde und einem der Freunde am Tisch den Kommentar entlockte, "besser habe ich Lamm noch nie gegessen". Würzung auf den Punkt, Garzeitpunkt voll getroffen, perfekte Fleischqualität. Und dazu eine Kartoffelravioli mit anfrittierten Kartoffelschnitzen, anfrittierter Gemüsejulienne, Dill, Koriander und einigen anderen Zutaten, die sich mir nicht erschlossen. Alles zusammen gab dem Gericht den Touch von Originalität, den es in der Dreisterneliga wahrscheinlich braucht, um das Mosern der Gastrokritiker zu verhindern, die sich nicht vorstellen können, dass ein so perfektes Fleisch alleine auch schon Höchstnoten verdienen könnte.
Und dann, was ist das denn!?!? Als erstes Dessert steht da doch ein Schaum (ecume“) von weißer Schokolade auf der Karte. Ich wollte gerade einen Sitzstreik vor der Küche ausrufen, da stand der Teller schon vor mir. Entwarnung, der Schaum war keiner. Sondern eine grinsende Anspielung auf den Schaumwahn. So habe ich es jedenfalls verstanden, denn auf dem Teller ruhte eine hochwertige Mousse au Chocolat von cremigster Textur, die mit dem vergänglichen Schaum der Molekulartaliban so gar nichts zu tun hatte. Drumherum ein Kaffee-Single-Malt-Küchlein und natürlich auch noch eine cremige Sauce, so muss es sein.
Zum guten Schluss noch ein wunderbar krokantiges Teigblatt mit Rhabarber, Gariguette-Erdbeeren, Limoncello- Sorbet und Sauternes-Sabayon. Wieder ein Schaum, der keiner war. So steht am Ende dieser Zeitreise, die uns irgendwie in eine modernisierte Vergangenheit transportiert hat, die Erkenntnis, dass die Gastrokritik sich auch schon mal gewaltig täuschen kann. Denn die hat die Auberge in den letzten Jahren teilweise ziemlich unter Beschuss genommen. Man sei stehen geblieben, stand da zu lesen, es fehle die Innovationskraft, man ruhe sich auf dem Lorbeer der Vergangenheit aus und andres mehr. Alles falsch, es geht voran in der Auberge und gleichzeitig bleibt alles beim Alten. Ein ungemein beruhigendes Gefühl in Zeiten sinnfreier gastronomischer Technikhuberei.
Auch in der Auberge du Vieux Puits ist gottseidank alles beim Alten geblieben - mehr dazu im zweiten Etappenbericht!